
Schadet zu viel Hygiene der Gesundheit?
Hygiene schützt vor Krankheiten – keine Frage. Gerade in Zeiten von Grippewellen oder Magen-Darm-Infekten ist gründliches Händewaschen unverzichtbar. Aber kann zu viel Hygiene auch schaden? Was passiert, wenn der Körper zu wenig mit Keimen in Kontakt kommt?
Das Immunsystem braucht Training
Das Immunsystem schützt dich täglich vor Krankheitserregern und schädlichen Stoffen – und muss dabei blitzschnell entscheiden, was gefährlich ist und was nicht. Damit das gelingt, braucht das Immunsystem Übung. Der Kontakt mit Mikroorganismen (Bakterien, Viren und Co.) ist dafür unerlässlich, denn hierdurch lernt das Immunsystem, sich zu verteidigen, aber auch angemessen auf „Fremdes“ zu reagieren. Fehlt der Kontakt mit Mikroorganismen, dann fehlt den Immunzellen auch das nötige Training. Als Folge kann das Immunsystem zu Überreaktionen neigen – auch auf harmlose Stoffe wie Pollen oder Nahrungsmittel.
Besonders in der Kindheit ist der Kontakt zu Mikroorganismen wichtig
Das Immunsystem muss sich nach der Geburt erst noch entwickeln. Hierbei spielen der Kontakt zu Mikroorganismen sowie die Besiedlung des Darms durch nützliche Bakterien, d.h. der Aufbau einer gesunden Darmflora, eine entscheidende Rolle.
Die Darmflora ist wichtiger Trainingspartner des Immunsystems. Die Bakterien der Darmflora trainieren das Immunsystem von Anfang an, zwischen harmlos und gefährlich zu unterscheiden. Die frühkindliche Entwicklung der Darmflora ist daher eng mit der Entwicklung des Immunsystems verbunden.1,2
Hygiene-Hypothese und Bauernhof-Effekt
Die sogenannte Hygiene-Hypothese3 beschreibt ein hiermit verbundenes Problem: In vielen westlichen Gesellschaften wachsen Kinder in immer saubereren Umgebungen auf und haben zunehmend weniger Kontakt zu Tieren, Natur und Keimen. Durch die übermäßige Hygiene und den fehlenden Kontakt zu Mikroorganismen im Säuglings- und Kindesalter wird die natürliche Entwicklung des Immunsystems erschwert. Dies geht mit einem erhöhten Risiko für allergische Erkrankungen wie Neurodermitis, Allergien und Asthma einher. Auch in Studien konnte dies beobachtet werden: Kinder, die auf dem Land und mit Tieren aufwachsen, entwickeln seltener allergische Erkrankungen.4 Diese Beobachtung wird auch als Bauernhof-Effekt bezeichnet. Ein bisschen Dreck schadet also nicht – im Gegenteil!
Sauber, aber nicht steril: Eine gesunde Hygiene-Balance finden
Natürlich ist Hygiene wichtig, aber es geht wie immer um das richtige Maß. Nicht jedes Bakterium ist dein Feind. Die richtige Balance macht den Unterschied, insbesondere bei Kindern:
- Regelmäßig Hände waschen – ja, aber nicht übertreiben: Vor dem Essen oder nach dem Toilettengang ist Hände waschen wichtig. Desinfektionsmittel brauchst du aber nur in besonderen Situationen, z. B. bei Krankheit oder im Krankenhaus.
- Raus in die Natur: Spielen im Sandkasten, Garten und Wald oder der Kontakt mit Tieren machen nicht nur Spaß – es hilft auch dem Immunsystem, zu lernen und Toleranz zu entwickeln.
- Natürliche Vielfalt im Darm fördern: Eine vielfältige Darmflora mit vielen nützlichen Bakterien unterstützt und trainiert das Immunsystem. Eine abwechslungsreiche Ernährung inkl. fermentierten Lebensmitteln sowie Ballaststoffen unterstützt die Vielfalt deiner Darmflora – und somit auch dein Immunsystem.
Literatur
1. Dzidic, M., Boix-Amorós, A., Selma-Royo, M., Mira, A. & Collado, M. Gut microbiota and mucosal immunity in the neonate. Medical Sciences 6, 56 (2018).
2. Gensollen, T., Iyer, S. S., Kasper, D. L. & Blumberg, R. S. How colonization by microbiota in early life shapes the immune system. Science 352, 539–544 (2016).
3. Perkin, M. R. & Strachan, D. P. The hygiene hypothesis for allergy – conception and evolution. Frontiers in Allergy 3, 1051368 (2022).
4. Campbell, B. et al. The effects of growing up on a farm on adult lung function and allergic phenotypes: an international population-based study. Thorax 72, 236–244 (2017).